Tuppeshuus

Tobias Renneisen gibt nicht auf!

 

Auch wenn sich die Dinge in seinem Leben noch nicht zum Besseren gewandt haben. Schon wieder arbeitslos und schon wieder voll abstruser Ideen.

 

Eine dicke Rechnung flattert ins Haus. Diese und der Einzug des extrovertierten Rentners Karl Alexander von Landgraf in die Nachbarschaft der beschaulichen ›Schwarzbraunen Haselnussgasse‹ sind Auslöser für Chaos und Zerstörung. Doch dieses Mal steht Tobias Renneisen nicht allein. Mit seinen nicht minder gequälten Nachbarn Sam und Jens plant er das ganz große Ding.

Leseprobe

'Boom' schepperte es ohrenbetäubend durch das offene Schlafzimmerfenster. Eben noch selig schlummernd lagen Petra und ich schlagartig mit aufgerissenen Augen im Bett. Entsetzt schaute mich meine Frau an. 'Boom' krachte es erneut. Nun saßen wir beide aufrecht in unserem Bett.
»Was war das?«, fragte ich schlaftrunken eher in den Raum hinein, als an Petra gerichtet. Es war der noch dösige Versuch, Wissen zu erlangen, in der Hoffnung nach Erleuchtung durch ein höheres Wesen. Zwar antwortete jenes höhere Wesen unmittelbar, aber die unzweifelhafte Erkenntnis kam durch eine Botin, meine Frau.
»Hab doch gleich gesagt, wir hätten das Fenster vor dem Schlafen schließen sollen!«
Ich blickte verdutzt auf meine Frau.
»Was war das für ein Lärm?«, wiederholte ich die Frage, Petras Kommentar bewusst ignorierend.
»Keine Ahnung«, antwortete sie wahrheitsgemäß, wie ich wusste. Warum hatte ich überhaupt gefragt? Wieso hatte sich meine Frau obendrein angesprochen gefühlt?
'Boom' hallte es ein drittes Mal.
»Ich glaube, es ist Krieg, Schatz.«
»Mach keinen Scheiß«, erwiderte Petra mit böse funkelndem Blick.
»Na ja, was soll's sonst sein?«
»Keine Ahnung, aber bestimmt kein Krieg.«
Mit diesen Worten krachte es ein viertes Mal. Den Wecker verriet mir, es war 6:00 Uhr. 6:00 Uhr. Sonntagmorgens 6:00 Uhr. Was in Dreiteufelsnamen knallte und donnerte an einem Sonntagmorgen um diese Uhrzeit.
»Das hört sich an wie Kanonenschläge. Ja, Kanonen.«
Petra schüttelte verständnislos den Kopf.
»Verarsch mich nicht.«
»Schatz, ich verarsch dich nie«, betonte ich. »Wofür würdest du es denn halten?«
Mit großen Augen schaute mich meine Frau an.
»Okay«, bestätigte sie, »Kanonen.«
Wir stiegen beide aus dem Bett und lugten aus dem Fenster. Nichts war zu sehen und momentan auch nichts zu hören. Es schien ein schöner Sonntag zu werden. Der Himmel war klar. Die Sonne war im Begriff aufzugehen und es war eine frische morgendliche Kühle, die durch das Fenster drang. Tau lag auf dem Gartentisch und den Gartenstühlen, und die Wiese schimmerte weißlich feucht. Es musste sich in der Nacht merklich abgekühlt haben. Ich ließ soeben noch die schönen wetterbedingten Eindrücke auf mich wirken, da schepperte es nochmals. Reflexartig traten Petra und ich von dem geöffneten Fenster einen Schritt zurück.
»Was zum Donnerwetter geht denn da draußen vor?«, wollte ich wissen, ohne mir der Treffsicherheit meiner Frage klar zu sein.
»Tobi, ich hab keine Ahnung, aber es klingt verdammt laut«, antwortete mir Petra, wobei mir die letzte Bemerkung auch ohne ihr Hinzutun bewusst war. Sie drehte sich vom Schlafzimmerfenster ab. »Ich geh jetzt erstmal nach Isabel gucken.«
Mit diesen Worten verließ sie das Schlafzimmer. Schnell schlüpfte ich in meine Jogginghose, schmiss mir ein T-Shirt über und stapfte die Treppe runter in Richtung Hauswirtschaftsraum, wo ich mir die Gartenschuhe anzog. Als ich gerade die Tür zum Verlassen des Hauses öffnen wollte, vernahm ich noch kurz Petra, wie sie aus dem Obergeschoß rief: »Gehst du mal bitte schauen, was da los ist!«
Ich öffnete ohne Antwort die Tür und stapfte zur Straße. Das war mal wieder typisch Frau. Gleichbehandlung an allen Ecken fordern, aber wehe, es bricht irgendwo ein Krieg aus. Dann heißt es: »Schatz, geh mal gucken!«
Als ich gerade das Ende der Einfahrt erreicht hatte, krachte es erneut. Ich entschied, bevor ich weiter an die Front marschierte, kurz kehrtzumachen und einen Spaten aus dem Gartenschuppen zu holen. So konnte ich unterwegs wenigstens mein Grab schaufeln. Oder das des Störenfrieds. Das blieb noch abzuwarten. Als es wiederholt laut knallte, war es für mich eindeutig, dass der Lärm direkt aus der Nachbarschaft kam. Ich blickte die ›Schwarzbraune Haselnussgasse‹ entlang und umgehend erfasste mich eine fürchterliche Ahnung. Die von Landgrafs. Wer sonst? Wer sonst hatte eine alte Gusseisenkanone im Vorgarten stehen? Das Aufsehen auf sich zu ziehen, hatten diese offenbar raus. Es kam mir vor, wie ein Déjà-vu, als ich mich in die Richtung der Straße zuwandte, wo das Haus der von Landgrafs lag. Dass bereits auf der gegenüberliegenden Seite die Haustür einen Spalt breit offen und davor Jens Winkler stand, kam mir seltsam vertraut vor. Ohne Frage hatte es die Winklers ebenfalls aus dem Bett gerissen. Mein Nachbar, mit offenkundig fassungsloser Miene, blickte von seinem Haus auf die gegenüberliegende Straßenseite. Seine Frau Andrea und den kleinen Justus konnte ich allerdings nicht sehen. Da war es wieder, das eben festgestelltes Klischee. Brach irgendwo der Krieg aus, wurden erst einmal die Männer vorausgeschickt. Meine Frau Petra, so bemerkte ich, als ich mich kurz umwandte und unsere Einfahrt hinaufblickte, ließ sich selbstredend vor der Tür auch nicht blicken. Mit einem etwas mulmigen Gefühl, und festem Griff um den Spaten, schritt ich auf Jens zu.
»Guten Morgen, Jens.«
»Moin Tobi.« Jens Winkler schaute mich mit in Falten gelegter Stirn an. »Was willsten mit dem Spaten?«
»Weiß ich noch nicht«, erwiderte ich grimmig. »Wird sich noch zeigen.« Ich drehte mich zum gegenüberliegenden Grundstück, wo Jens zuvor noch fassungslos hingestarrt hatte. Obwohl meine vorherige Ahnung sicht scheinbar bereits mit dem ersten Blick bestätigte, kam ich nicht umhin zu fragen: »Was ist denn hier los?«
»Schau selbst«, antwortete Jens und zeigte auf das Haus der von Landgrafs. Als ich versuchte, die Szenerie mit meinen Augen aufzunehmen, begann ich genauer zu verstehen.
Dort stand im Vorgarten Karl Alexander von Landgraf, den ich nun das erste Mal erblickte, an seinem neu errichteten Fahnenmast. Im rotbraunen Trainingsanzug, die rechte Hand auf der Brust, das Monokel im Auge zu einer imaginären Fahne hochblickend, wirkte der ausgesprochen kleine, alte Mann wie eine Karnevalskarikatur von Napoleon auf Urlaub. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand jene Kanone, die mir schon kürzlich aufgefallen war. Die Mündung rauchte noch. Jens drehte sich wieder zu mir um.
»Das ist die Nachbildung einer französischen zwölf Pfund Feldkanone von 1793«, flüsterte er mir zu. »Ein Vorderlader mit Bronzerohr.«
Mit fragendem Blick drehte ich mich zu Jens.
»Er hat das Ding kürzlich in seinem Garten aufgestellt und so kamen wir ins Gespräch. Ich dachte, als Deko. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er in nächster Zeit ein Schützenfest veranstalten würde.«
Ich zog eine Augenbraue hoch.
»Mir war das Ding letztens auch schon aufgefallen. Hab aber keine Ahnung von so einem Kram.«
»Ich auch nicht«, stellte Jens fest. »Er hat es mir erzählt.«
Wir blickten beide wieder auf das Schauspiel in der Nachbarschaft, um noch einmal dessen Absurdität in uns aufzunehmen.
»Petra und ich sind aus dem Bett gefallen!«, richtete ich mich abermals an Jens.
»Frag mich mal. Andrea ist drinnen damit beschäftigt, Justus zu beruhigen.«
»Wir sollten«, setzte ich gerade an, als ich hörte, wie von der anderen Straßenseite Karl Alexander von Landgraf anfing, ein Lied zu singen. Mit beinah greifbarer Entgeisterung drehten Jens und ich uns zu dem grauen Herren um.
»Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder doch?«, fragte ich hoffnungsvoll erneut jenes, vielleicht existierende höhere Wesen, das mir schon vorhin nicht geantwortet hatte. Petra konnte diesmal ja nicht antworten. Dafür antwortete Jens. Im Grunde stotterte er mehr, als dass er sprach.
»Das ... das ... das ist ... ist ...«
»Das Steigerlied!«, vollendete ich mit zitteriger Stimme den Satz.

Frank Didden